Woz 15.04.2010: Revolutionäre Zellen

Revolutionäre Zellen

Herzstillstand im Untergrund

Von Andreas Fanizadeh

 

Sie leben seit 32 Jahren im Exil. 22 Jahre davon mussten sie sich vor der Polizei verstecken. Jetzt droht ihnen die Auslieferung nach Deutschland. Christian Gauger (66) und Sonja Suder (77) über das Leben auf der Flucht und das Gefühl, wenn man geschnappt wird.

WOZ: Frau Suder, Herr Gauger, wann merkten Sie erstmals, dass Sie observiert wurden?

Sonja Suder: Es war im Sommer 1978. Wir waren gerade vom Urlaub aus Südfrankreich zurück nach Frankfurt gekommen. Wir sind um sechs Uhr morgens los, um unseren Stand auf dem Flohmarkt am Eisernen Steg am Mainufer aufzubauen.

Und da merkten Sie, dass Ihnen jemand folgte?

Suder: Um sechs Uhr morgens ist es auffällig, wenn jemand von deiner Haustür bis zum Flohmarkt hinter dir ist und dann selber keinen Stand aufbaut. Wir haben das am Nachmittag überprüft, und da war es klar: Wir werden überwacht. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Wir beschlossen, wegzugehen.

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Wer erinnert sich an 1978, das Jahr, in dem Sonja Suder und Christian Gauger von der Bildfläche verschwanden, um die nächsten 22 Jahre lang unauffindbar zu bleiben? Das Jahr, in dem Argentinien die Fussball-WM gewann, in Nicaragua die Sandinisten den Nationalpalast stürmten und in Italien die Roten Brigaden den Christdemokraten Aldo Moro ermordeten.

In der Bundesrepublik Deutschland plante im Juni 1978 ein – nach Ansicht der Staatsanwaltschaft – Bekannter von Sonja Suder und Christian Gauger, eine Bombe am argentinischen Konsulat in München zu platzieren. Hermann Feiling hiess er und soll wie Suder und Gauger im Umfeld der sogenannten Revolutionären Zellen (RZ) agiert haben. Die Gruppierung propagierte Anschläge mit Sachschäden und versuchte, anders als die Rote Armee Fraktion (RAF), Opfer zu vermeiden. Suder und Gauger sollen, sagt die Staatsanwaltschaft heute, 1977 an zwei Anschlägen gegen Firmen beteiligt gewesen sein, die Urangeschäfte mit Südafrika machten, sowie 1978 an einem Brandanschlag aufs Heidelberger Schloss. Am 15. September 1978 erliess ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof deshalb Haftbefehl gegen Suder und Gauger.

Falls sich Gauger, Suder und Feiling tatsächlich kannten, wie die Staatsanwaltschaft glaubt, dann dürften sie sich 1978 darin einig gewesen sein, Argentinien als Unrechtsstaat zu betrachten. Die Militärs hatten dort 1976 geputscht und in der Folge über 30 000 Menschen ermorden lassen. In diesem Land fand unter skandalösen Umständen die Fussballweltmeisterschaft statt. Und die sozial­liberale Koalition in der Bundesrepublik tolerierte Geschäfte deutscher Firmen mit der argentinischen Diktatur, während sie in argentinische Folterhaft geratenen deutschen StaatsbürgerInnen nur zögerlich half. Es gab also wahrnehmbare Missstände, auch wenn nur wenige wie Hermann Feiling deshalb versuchten, ein Loch in die Mauer des argentinischen Konsulats zu bomben. Zum Anschlag auf das Konsulat kam es nie: Für Hermann Feiling verlief die Vorbereitung fatal, der Sprengsatz explodierte am 23. Juni in Heidelberg vorzeitig, Feiling verlor beide Beine und Augen.

Der Schwerverletzte wurde damals offenbar noch in der Uniklinik Heidelberg von PolizistInnen vernommen. Über Wochen und Monate hinweg, sagen Freunde und Anwälte, isolierten die ErmittlerInnen Feiling, um an Informatio­nen über die Organisationsstruktur der Revolutionären Zellen zu gelangen. Sie protokollierten, was ihnen Feiling unter Medikamenteneinfluss und ohne Rechtsbeistand eigener Wahl gesagt haben soll. Später widerrief er seine Aussagen.

Wenige Wochen nach Feilings Unfall bemerkten Suder und Gauger die Observationsteams in Frankfurt – und tauchten ab. Seither sollen sie irgendwo im Ausland gelebt haben und – so sie es vorher waren – nicht mehr im Zusammenhang mit den RZ aktiv gewesen sein.

Der Tatverdacht gegen Suder und Gauger «stützt sich im Wesentlichen auf die Angaben des Zeugen Feiling von 1978», bestätigt die Frankfurter Staatsanwaltschaft auf Nachfrage. Erst 1999 kam laut der Behörde ein weiterer Verdacht gegen Sonja Suder hinzu. Der Vorwurf: Beteiligung am bewaffneten Überfall auf die Konferenz der erdölexportierenden Staaten (Opec) 1975 in Wien und Beihilfe zum Mord. Dieser Vorwurf stützt sich auf den an der Tat beteiligten und 1998 festgenommenen Hans-Joachim Klein. Die Verjährungsfrist für die Anschläge, die Gauger und Suder ursprünglich zur Last gelegt wurden, beträgt zwanzig Jahre. Sie wäre 1998 verstrichen. Doch, so sagt die Staatsanwaltschaft, die Verjährung sei «mehrfach unterbrochen» worden und sie könne «maximal bis zur doppelten Zeit – also vierzig Jahre – laufen».

Im Jahr 2000 kam es zur spektakulären Enttarnung und Festnahme der beiden «RZ-Rentner» in Paris. 2001 wies Frankreich das Auslieferungsbegehren Deutschlands jedoch ab. Aufgrund neuer EU-Bestimmungen – der Schaffung des Europäischen Haftbefehls – ist inzwischen erneut ein Auslieferungsgesuch bei den Behörden pendent. Derzeit liegt der Fall beim französischen Verfassungsgericht. Ob Frankreich ausliefert, ist ungewiss.

Paris, St. Denis, Winter 2010. Auf sehr kleinen Grundstücken stehen sehr kleine Häuser, in der Ferne sieht man die Kulisse einiger Hochhäuser. Ein nasskalter Tag, kaum Menschen auf den Strassen. In einem winzigen Teil eines dieser Häuschen leben seit ihrer Enttarnung und vorübergehenden Inhaftierung Sonja Suder und Christian Gauger. Sonja Suder ist mittlerweile 77 Jahre alt, Christian Gauger 68. Sie waren schon vor ihrer Flucht von 1978 ein Paar. Es ist das erste Mal, dass sie mit der deutschsprachigen Presse sprechen. Es gibt Tee und Gebäck zum Gespräch. Ihre Wohnküche ist keine sechzehn Quadratmeter gross.

Wie ist das, wenn man deutsche Firmen wegen ihrer Geschäfte mit dem Apartheidstaat Südafrika attackiert, dann abtaucht, ein klandestines Leben in Frank­reich führt, um Jahrzehnte später enttarnt und verhaftet zu werden? Suder und Gauger lächeln. Darüber reden sie nicht. Die beiden suchen das Gespräch mit der WOZ unter der Voraussetzung, dass sie keine Fragen beantworten müssen, die für die Verfahren juristisch relevant sein könnten. Sie sagen nicht, ob und, wenn ja, wofür sie Verantwortung tragen.

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Wie lange leben Sie schon im Exil?

Suder: Seit 1978.

Sie haben vorher in Frankfurt am Main gelebt?

Suder: Ja, ich hab Medizin studiert. Als wir weg sind, war ich fast fertig.

Und Sie, Herr Gauger?

Christian Gauger: Ich hab auch in Frankfurt gelebt. Ich hatte ein Diplom in Psychologie und bei den Sonderpädagogen an der Uni gearbeitet.

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Gauger mustert den Journalisten. Er nippt an seiner Tasse, ist konzentriert und ruhig. Sein schneeweisses Haar hat er hinten zu einem Zopf zusammengebunden, das Gesicht rahmt ein kurz geschnittener weissgrauer Bart. Mit seinem Blümchenhemd und dem leichten hessischen Dialekt könnte er direkt aus einem Antiquariat in Frankfurt-Bockenheim marschieren. Sonja Suder hat die Gesprächsführung. Ihre 77 Jahre merkt man ihr nicht an. Eine agile, lebhafte und spontane Persönlichkeit mit resoluter Stimme, schwarz und sportlich gekleidet, und mit kürzerem, dunklem Haar.

Das Zimmer in St. Denis ist mit ge­brauchten Holzmöbeln eingerichtet, gemütlich und einfach, so wie man es aus vielen Wohngemeinschaften der Alternativszene kennt. Neben Büchern fallen unzählige Messerbänkchen in den Regalen auf. Messerbänkchen benutzt man zur Ablage des Bestecks zwischen den Gängen, um den Tisch nicht zu beschmutzen. Sie sind aus Porzellan und Edelmetall, aus verschiedenen Mineralien, schlicht oder kunstvoll gefertigt. Christian Gauger erzählt langsam, fast schleppend. 1997 hatte er einen Herzinfarkt und musste wiederbelebt werden.

*

Wie haben Sie Ihre Festnahme im Jahr 2000 erlebt?

Suder: Wir waren gerade in Paris und sind aus dem Hotel rausgekommen. Es ging alles sehr schnell: Hände hoch! Und dann Arme und Gesicht zur Wand.

Französische Polizei?

Suder: Ja. Französische Polizei.

Keine Deutschen dabei?

Suder: Nein, erst später im Bullenrevier, da waren dann auch Deutsche dabei. Die haben sich zwar nicht sehen lassen, du hast sie aber gehört, wie sie miteinander sprachen.

Ist es Ihnen wichtig, dass wir von «Bullen» reden?

Suder (lacht): Nein, wir können auch Polizei sagen.

Hatten Sie damit gerechnet, geschnappt zu werden?

Suder: Nicht zu diesem speziellen Zeitpunkt, auch wenn du eine Einstellung zu deinem Leben hast, als könne es jederzeit passieren. Man weiss ja nie, was gerade tatsächlich läuft. Insofern rechnest du prinzipiell damit.

Also, es gab keinerlei konkrete Hinweise, die Sie bemerkten?

Suder: Nein. Obwohl die sicher schon eine Weile an uns dran waren.

Wissen Sie, wie man Sie nach 22 Jahren aufspüren konnte?

Suder: Es ist unklar. Wir hatten damals ein Treffen mit einer Verwandten. Vielleicht hat sich die Polizei irgendwie an sie drangeklemmt.

Meinen Sie, Sie hatten die ganzen Jahre ein Zielfahndungskommando am Hals?

Suder: Ich glaube nicht. Bis zu den Aussagen von Hans-Joachim Klein 1998/99 waren wir zeitweise wohl nicht einmal europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Das muss sich danach geändert haben.

Bis 1999 gab es keinen internationalen Haftbefehl?

Suder: Nein, das sagen unsere Anwälte. Deswegen haben wir wahrscheinlich auch vorher unsere Ruhe gehabt.

Herr Gauger, Sie halten sich sehr zurück? Möchten Sie an unserem Gespräch nicht richtig teilnehmen?

Gauger: Ich habe an vieles keine eigene Erinnerung. Ich hatte einen Schlaganfall und lag im Koma.

Wann war das?

Suder: 1997.

Gauger: Ich hatte einen Herzstillstand. War praktisch tot. Sonja hat mich wiederbelebt. (Herzstillstand und die damit einhergehende Beeinträchtigung von Gehirn und Erinnerungsvermögen bestätigen medizinische Gutachten aus Frankreich.)

War Ihre falsche Identität so gut, dass Sie ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen konnten?

Suder: Mussten! Allein wegen der Kontrolle und der Medikamente. Die Rehabilitation hab ich dann selber mit ihm gemacht. Das war schon eine sehr blöde Situation.

Und Sie flogen nicht auf?

Suder: Nein. Manchmal hat man zwar tief Luft geholt, aber bei unserem Alter, da sind die Leute nicht mehr so misstrauisch.

Gauger: Ich hatte meine Erinnerung vollständig verloren.

Aber Sonja Suder haben Sie wie­dererkannt?

Suder: Was mich auch gewundert hat, muss ich sagen.

Gauger: Aber ich hab vorher nicht gewusst, dass sie existierte, erst als sie ins Zimmer zurückkam, hab ich sie erkannt.

Was ist das für ein Gefühl, wenn man alles vergessen hat, im Untergrund lebt und einer einzigen Person vertrauen muss, die einen lehrt, wer man ist?

Gauger: Da kam irgendwann die Furcht: Oh Scheisse, was ist, wenn ich jetzt blöd bleibe. Als ich diese Furcht bekam, war das aber auch zugleich der Punkt, an dem ich merkte, dass ich jetzt wieder selber denken kann.

Sonja Suder musste Ihnen auch erzählen, weswegen Sie im Untergrund lebten?

Gauger: Ja. Aber ich weiss natürlich nicht, ob sie mir alles erzählt hat. Das weiss ich einfach nicht.

Suder: Das kannst du ja auch nicht. Du kannst nicht ein ganzes Leben erzählen. Wenn jemand fragt und wenn man mit bestimmten Reha-Büchern arbeitet, kann man einiges wiedererzählen, aber man darf ja auch einen Kopf nicht überhäufen. Das geht Stückchen für Stückchen.

1997 und 2000 – zwischen Herzstillstand und Verhaftung lag gar nicht so viel Zeit.

Suder: Ja, aber sein Gesundheitszustand war wieder stabil. Allerdings fragt mich Christian bis heute nach Dingen aus seiner Vergangenheit, und wir setzen die Rehabilitation praktisch fort.

Sie wurden nach der Verhaftung sofort getrennt?

Suder: Ja, sofort.

Haben Sie noch Familie in Deutschland?

Suder: Ja. Wir haben beide zu unseren Schwestern Kontakt.

Herr Gauger, dann können Sie also jetzt selbstständig überprüfen, ob es stimmt, was Ihnen Frau Suder erzählt hat?

Gauger: Ja, zumindest das ist leichter geworden.

Wie fühlten Sie sich bei den Vernehmungen nach der Verhaftung?

Suder: Wenn du vorher ausgemacht hast: «Wenn einmal was passiert, dann kein Wort, keine Aussage», dann hast du ein sehr sicheres Gefühl.

Wie lange waren Sie beim ers­ten Verfahren 2000/01 in Untersuchungshaft?

Suder: Nicht ganz drei Monate. Chris­tian sass in Paris, das Frauengefängnis war ausserhalb.

War dies Ihr erster Aufenthalt im Gefängnis?

Suder: Ja, ich war Ende 60, Christian Anfang 60.

Wie war das im Gefängnis?

Suder: Man sagt, die französischen seien die schrecklichsten Gefängnisse der Welt. Aber ich kann das nicht sagen. Ich kam in eine Zelle und hatte ganz normalen Hofgang. Ich bin gleich auf ein paar Baskinnen gestossen. Von da an wurde mir alles, was ich brauchte, wie von allein organisiert, natürlich unter der Hand. Ich war also gleich ein bisschen privilegiert. Diese Solidarität war faszinierend.

Was war das Belastendste im Gefängnis?

Suder: Eigentlich der Krach. An jedem Zugang sind Eisentüren, die permanent aufgeschlossen und wieder zugeknallt werden. Das ist ein fortwährendes Knallen. Ein unglaublicher Krach. Das Eingeschlossensein selber war für mich nicht so schlimm, da befasst du dich ja auch vorher schon ein wenig damit. Du musst sofort schauen, dass man etwas tun kann, Sport treiben, lesen.

Herr Gauger, wie ging es Ihnen?

Gauger: Beim Hofgang ist gleich einer auf mich zugekommen. Der wusste schon Bescheid. Da war ich dann immer mit dem und noch einem anderen zusammen beim Hofgang. In der Zelle waren wir zu dritt. Unangenehm waren die Stockbetten. Im dritten oben, das ist doch ganz schön hoch, da kann dir schwindlig werden. Ansonsten: Mäuse und Kakerlaken, das sind doch Haustiere. Besser als eine weiss gekachelte Einzelzelle, wo du niemanden siehst und hörst.

Was denkt man, wenn man nach mehr als zwanzig Jahren im Exil verhaftet wird?

Suder: Jetzt hats uns doch noch er­wischt.

Gauger: Und ich hab gedacht: Das muss doch nicht sein.

Sie wissen, was Ihnen konkret vorgeworfen wird?

Suder: Drei Anschläge, zwei gegen das Atomprogramm des damaligen Apartheidregimes in Südafrika und ein Anschlag gegen die Stadtsanierung in Heidelberg. Und mir zusätzlich Wien. Diese Opec-Geschichte. Und damit die Behauptung: Beihilfe zum Mord. In Frankreich wäre auch dies verjährt. Das Einzige, was hier nicht verjährt, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Überraschte Sie der Vorwurf der Beteiligung am Opec-Anschlag?

Suder: Ja.

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Hans-Joachim Kleins Festnahme im Jahr 1998 kam genauso aus heiterem Himmel wie seine Behauptungen von einer Tatbeteiligung Suders. Klein hatte im Dezember 1975 einem Kommando unter Führung von Ilich Ramírez Sánchez, genannt «Carlos», angehört, das in Wien für den Tod von drei Menschen verantwortlich war. Dem bei der Aktion selber angeschossenen Klein gelang mit anderen Kommandomitgliedern und Opec-Minis­tern als Geiseln die Flucht.

Auf Nachfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Frankfurt heute, dass es bis 1999 und abgesehen von Kleins Aussagen keinerlei Hinweise gegeben habe, Suder könnte in die frühe Phase der RZ bis 1976 (vgl. Text «Die Revolutionären Zellen») involviert gewesen sein. Klein bezichtigte 1999 aufgrund von Fotos, die man ihm vorlegte, auch andere Personen, am Wiener Opec-Überfall beteiligt gewesen zu sein. Etwa Rudolf Schindler, dem deswegen bereits 2001 vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess gemacht wurde. Entgegen Kleins Aussagen wurde Schindler jedoch vom Vorwurf der Mittäterschaft freigesprochen. Das Gericht bezweifelte Kleins «Identifizierungssicherheit bei der Lichtbildvorlage vom 2.9.1999». Bei dieser beschuldigte er neben Schindler auch Suder, «obwohl er diesbezüglich zuvor nie von einer weiteren Frau gesprochen hat», befand das Gericht schon 2001. Ausser Kleins Aussagen hat die Staatsanwaltschaft auch heute in Sachen Opec nichts gegen Suder in der Hand.

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Frau Suder, Herr Gauger, kam Ihnen in all den Jahren nicht auch einmal in den Sinn: Die Geschichte liegt so lange zurück, was soll das, wir wollen zurück nach Deutschland und stellen uns der Vergangenheit?

Suder: Also mir nicht. Und dir, Christian?

Gauger: Doch, wenn die Haftbefehle aufgehoben worden wären.

Suder: Sehr witzig. Jetzt ist aber klar: Sollte Frankreich dem Auslieferungsbegehren stattgeben, werden wir uns dem Verfahren in Deutschland stellen.

Die Gruppierung, der Sie angehört haben sollen, hat sich Anfang der neunziger Jahre endgültig aufgelöst. Hatte das zuletzt irgendwelche Auswirkungen auf das Verfahren?

Suder: Juristisch keine. Nachdem die neue EU-Rechtsprechung kam, wurden wir 2007 ein zweites Mal in Frankreich verhaftet. Christian für vierzehn Tage und ich für einen Monat. Und seit 2009 müssen wir täglich mit der Auslieferung rechnen, obwohl das französische Gericht eine Auslieferung 2001 bereits abgelehnt hatte.

Nach Ihrer Enttarnung im Jahr 2000 und der Niederschlagung des Auslieferungsverfahrens lebten Sie in Paris erstmals wieder legal. Wie war das für Sie?

Suder: Wenn du ständig mit einer vor­getäuschten Biografie lebst, kannst du keine wirklichen Freundschaften aufbauen. Wir lebten all die Jahre eher zurückgezogen. In Paris hatten wir zunächst gar keine Kontakte. Unsere Anwältin hatte dann für uns einen italienischen Genossen aufgetrieben, damit wir überhaupt eine Wohnadresse vorweisen konnten, um aus dem Gefängnis rauskommen zu können. Wir waren schnell integriert in die grosse italienische Exilszene um die geflüchteten Militanten aus den Siebzigern, mit ihren Diskussionen und Festen. Sie sind sehr solidarisch. Da haben wir viel Glück gehabt.

 

Die Revolutionären Zellen

Die Revolutionären Zellen (RZ) sind Anfang der siebziger Jahre in Westdeutschland entstanden. In den achtziger Jahren verübten die RZ (und ihr feministischer Ableger Rote Zora) zahlreiche Anschläge mit Sachschäden; so gegen Rüstungs­betriebe und Immigrationsbehörden. Die Vorwürfe der RZ-Mitgliedschaft gegen Sonja Suder und Christian Gauger (vgl. Haupttext) reichen in die Jahre 1977/78 zurück. In dieser Phase sollen sie an drei kleineren Anschlägen beteiligt gewesen sein.

1999 behauptete der in Frankreich festgenommene Hans-Joachim Klein jedoch, Sonja Suder habe auch bei der Waffenbeschaffung für den Opec-Überfall 1975 in Wien geholfen. Bei dem Überfall auf die Konferenz der erdöl­exportierenden Staaten waren drei Menschen umgekommen. Die Aktion stand unter der Führung von Ilich Ramírez Sánchez, genannt Carlos. Dem bei dem Überfall angeschossenen Klein gelang mit anderen Kommandomitgliedern und Opec-Ministern als Geiseln die Flucht. Die Aktion fällt wie die Entführung einer Air-France-Maschine 1976 nach Entebbe in die Frühphase der RZ. Bei der deutsch-palästinensischen Aktion in Entebbe starben Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die als Köpfe der frühen RZ gelten.

Die RZ formierten sich nach 1976/77 neu und gingen auf Distanz zu nahöstlichen Gruppierungen und Gestalten wie Carlos. Sie kritisierten Antiamerikanismus und Antizionismus in der antiimperialistischen Linken und propagierten Anschläge, die keine Todesopfer fordern sollten.

Die RZ agierten bis 1992 am Rande der autonomen Bewegungen und wurden auch als «Feier­abendterroristen» bezeichnet. Im Gegensatz zur Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni waren ihre Mitglieder unbekannt und lebten in bürgerlichen Doppel­existenzen. Die RZ waren für den Staatsschutz schwer einschätzbar, nicht zuletzt weil sie ohne erkennbare Steuerung agierten. Bis zu den späten Aussagen der Kronzeugen Hans-­Joachim Klein im Jahr 1999 und Tarek Mousli (ab 2000 in Berlin) wussten die Behörden so gut wie nichts über die Struktur der RZ.

 

http://www.woz.ch/artikel/archiv/19239.html

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