Offener Brief der Familie: Pressemitteilung des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Komitee für Grundrechte und Demokratie
Montag, 1. Juli 2013

Zum Verfahren gegen mutmaßliche RZ-Mitglieder in Frankfurt

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem oben angegebenen Strafverfahren gegen zwei vermeintliche
RZ-Mitglieder, das seit September letzten Jahres geführt wird, haben sich in dieser Woche Freunde und die Familie der in Beugehaft genommenen Sibylle S. und von Hermann F. mit einem offenen Briefappell an das hessische  Justizministerium und in gleichlautenden Briefen an das Gericht und die Staatsanwaltschaft gewandt.  (s. unten)

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie, das diesen Appell unterstützt, möchte auf diesen Apell hinweisen.
Kurz zum Hintergrund, so er Ihnen nicht bekannt sein sollte:  Gegen Sibylle S., Zeugin in diesem Verfahren, wurde Anfang April Beugehaft verhängt, da sie Aussagen verweigert und gerichtlich kein Aussageverweigerungsrecht zugestanden bekommen hat.
Den beiden Angeklagten, Sonja Suder (80) und Christian Gauger (71). wird vorgeworfen, an drei Sprengstoffanschlägen der RZ in den 1970er Jahren beteiligt gewesen zu sein. Sonja Suder wird zudem vorgeworfen, dass sie Waffen für das Attentat auf die OPEC-Konferenz 1975 in Wien beschafft haben soll.

Sibylle S. soll sich nun zum wiederholten Male zu den
“Verhörprotokollen“  Hermann F. äußern, die unter Ausnutzung seiner Desorientierung und seiner schweren Verletzungen angefertigt wurden. Sibylle S. war 1980 Mitangeklagte von Hermann F., der 1978 durch einen Sprengsatz lebensgefährlich verletzt wurde; dabei verlor er sein Augenlicht, beide Beine mussten ihm amputiert werden. Die
Sicherheitsbehörden nutzten seine schwere Traumatisierung nach dem Unfall aus, isolierten ihn monatelang und verwerteten die ihm abgeschöpften Informationen als „Aussagen“. Herrmann F. hat alle seine Angaben aus den „Verhörprotokollen“ späterhin widerrufen und über die Umstände berichtet, wie die Ermittler an sie gelangt waren. Nun soll der schwer erkrankte Hermann F. ebenfalls erneut dazu vernommen werden.
Zu diesem gerichtlichen Ansinnen und die verordnete Beugehaft nehmen enge Freunde und die Familie in ihrem engagierten Appell Stellung.

Zu diesem Verfahren haben sich bürgerrechtlich neben dem Grundrechtekomitee (1) der Republikanische Anwältinnen und Anwälte Verein (2) sowie die Internationale Liga für Menschenrechte (3)  ähnlich geäußert (siehe unten aufgeführte links): Alle drei Bürgerrechtsorganisationen kommen zu dem Schluss, die Verhörprotokolle zu verwenden, sei mit Grund- und Menschenrechten nicht vereinbar. Wir bitten nachdrücklich, dem dringenden Appell der Familie  Beachtung zu schenken.

(1) http://www.grundrechtekomitee.de/node/564

(2) http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/prozess-gegen-sonja-suder-und-christian-gauger-294/page2/

(3) http://www.verdammtlangquer.org/2013/04/internationale-liga-fur-menschenrechte-fordert-faires-verfahren-offener-brief-ans-gericht/

OFFENER BRIEF:

An
Herrn Jörg-Uwe Hahn
Hessischer Minister der Justiz, für Integration und Europa
Luisenstr. 13
65185 Wiesbaden

Heidelberg, den 30.6.2013

Offener Brief der Familie und Freunde von Sibylle S. und Hermann F.

Sehr geehrter Herr Hahn,
seit einigen Monaten wird vor dem Landgericht Frankfurt ein  Prozess gegen zwei  mutmaßliche militante Linksoppositionelle, 80 und 71 Jahre alt, geführt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten liegen über 30 Jahre zurück. Außerhalb des Staatsschutzsonderrechtes wären diese längst verjährt. Die militante Organisation, der die beiden betagten Angeklagten staatlicherseits mitgliedschaftlich zugerechnet werden (Revolutionäre Zellen – kurz RZ),  hat sich vor 20 Jahren aufgelöst. Eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit von Staat und Gesellschaft besteht insofern nicht mehr. Die nachträgliche Bekämpfung von mutmaßlichen Staatsfeinden  mit strafrechtlichen Mitteln findet selbst in der Öffentlichkeit kaum Interesse. Warum dann dieser Aufwand? Was sind eigentlich die materiellen Grundlagen dieses Strafverfahrens? Auf welchen Zeugnissen beruht die Anklage?

Eine durch Strafrabatt erkaufte Zeugenaussage zugunsten des Staates und seiner Strafverfolgungsbehörden, deren „Glaubwürdigkeit“ bislang die Zeitspanne einer Verhandlungspause kaum überdauerte.
Ein potentielles „Zeugnis“ unbestimmter Qualität, das allerdings noch menschenrechtswidrig mittels Beugehaft erzwungen werden müsste. Denunziation und existenziell zermürbender Freiheitsentzug, die die Unversehrtheit des Menschen allein zum Zweck der Aussagebereitschaft verletzen, waren eigentlich Werkzeuge mittelalterlicher Inquisition wider dissidente Ketzer, oder Werkzeuge neuzeitlicher Diktaturen gegen politische Oppositionelle.

Bleiben noch die „Erkenntnisse“, die grundrechtswidrig von einem schwer verwundeten und seelisch tief traumatisierten „Zeugen“ abgeschöpft wurden, während er völlig von der Außenwelt isoliert und allein der Staatsgewalt und deren Ermittlern unterworfen worden war. Diese „Verhörprotokolle“ strafprozessual zu verwerten, negiert nicht nur erneut die Menschenwürde des Verhörten, sondern legitimiert damit geradewegs die grundrechtswidrigen „Ermittlungspraktiken“. In der staatlichen Bekämpfung seiner mutmaßlichen Feinde werden Menschen zum bloßen Mittel herabgewürdigt. Es sind solche Verhör- und Ermittlungspraktiken, die die Grenzen zwischen rechtsstaatlicher Strafverfolgung und Feindstrafrecht inzwischen verwischen lassen.

Aber sind in der nachträglichen Verfolgung mutmaßlicher linker Militanter alle Mittel recht? Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Offenen Briefes meinen: Nein!
Die „Verhörprotokolle“ Hermann Fs., aufgezeichnet noch während seines Krankenhausaufenthaltes und später in abgeschotteten Polizeikasernen, dürften – ginge es grundrechtlich und rechtsstaatlich zu – überhaupt nicht zur Grundlage des Verfahrens gemacht werden. Diese widerrechtlich erzeugten Vorhörprotokolle machen ihn in diesem Prozess erst zum gerichtlich verwertbaren „Zeugen“. Seine damalige, von den Ermittlern rücksichtslos ausgenutzte und durch Verletzungen und Medikamenteneinfluss bedingte Orientierungslosigkeit, will sich das Gericht erneut zunutze machen. Ihn als „Zeugen“ vorzuladen, kann nur als Ausdruck einer fundamentalen Feindseligkeit verstanden werden.
Wie lange darf ein an Leib und Seele zu Schaden gekommener, staatlicherseits traktierter und verhörgequälter Mensch zu Strafverfolgungszwecken immer und immer wieder erneut „angehört“ werden? Will das Gericht ihm die „Verhörprotokolle“ erneut vorhalten? Wie steht es um die Menschenwürde, die zu verwirklichen und zu schützen allem staatlichen Handeln verfassungsgemäß Auftrag ist? Hermann F. hat seine in existenzieller Notlage von Ermittlern abgeschöpften Angaben längst widerrufen. Zu diesem Prozess hat er nichts beizutragen. Ihn vorzuladen, setzt leichtfertig seine Gesundheit aufs Spiel, u. a. durch das Risiko erneuter epileptischer Anfälle.
Die Vorladung demonstriert ihm erneut in demütigender Weise seine Ohnmacht gegenüber der Staatsgewalt. Ist das bezweckt? Wir appellieren an Sie, nehmen Sie Abstand davon, Hermann F. vorzuladen.
Das gleiche gilt für die in menschenrechtswidrige Beugehaft genommene Sibylle S., die ehemalige Lebens- und Weggefährtin von Hermann F. Sie ist vor über 30 Jahren allein aufgrund der grundrechtswidrig zustande gekommenen Verhörprotokolle zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden. Neun Monate hat sie damals in Haft verbracht. Als „Zeugin“ hat sie zu dem aktuellen Strafprozess, der wieder auf Grundlage der „Verhörprotokolle“ betrieben wird, nichts beizutragen und verweigert daher jegliche Aussage. Dafür wird sie nun mit Freiheitsentzug staatlich traktiert, der bis zu sechs Monaten dauern kann und der ihre berufliche und familiäre Existenz bedroht.

Das Gericht will, wohl wissend, dass die Anklage auf glaubwürdigkeitsschwächelnden und grundrechtswidrig ermittelten „Zeugnissen“ basiert, Sibylle S. zu Aussagen zwingen in der Hoffnung, diese könnten doch noch die Anklage bestätigen. Allein um der unnachgiebigen Strafverfolgung willen wird die eigentlich staatlich zu schützende Integrität von Sibylle S. verletzt. Wir appellieren an Sie, Sibylle S. umgehend aus der Haft zu entlassen und ihre Entscheidung, die Aussage zu verweigern, zu akzeptieren.
Es ist zudem an der Zeit die Verfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger einzustellen. Sonja Suder ist aus der Haft zu entlassen.
Es zeigt sich, dass in dem Verfahren die gerichtliche Wahrheitskonstruktion vor allem mittels erzwungener Zeugnisse oder aufgrund menschenrechtswidriger Verhörmethoden erfolgen kann. Das widerspricht den Grund- und Menschenrechten, an die in einem demokratisch verfassten und liberalen Rechtsstaat alle staatliche Gewalt gebunden ist. Es sei denn, die Strafverfolgungsbehörden und die Schwurgerichtskammer hielten dafür, sich nach über 30 Jahren in der vermeintlichen inneren Feindbekämpfung darüber hinweg setzen zu können.

Mit freundlichen Grüßen
Mia Lindemann

Wir unterstützen den Appell der Familie und Freunde, Sibylle S. aus der Beugehaft zu entlassen, Hermann F. nicht als Zeugen vorzuladen und die Verfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger einzustellen:

Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V., Krefeld
Uwe Sievers, Journalist, Berlin
Prof. Wolf-Dieter Narr, Berlin
Prof.  Dr. Michael Hoenisch, Berlin
Edgar Weick, Frankfurt a.M., Pädagoge
Malah Helman, Berlin, Künstlerin
Dr. Richard Kelber, Dortmund, Kritiker
Prof. Markus Wissen, Berlin, Hochschullehrer
Prof. Dr. Birgit Sauer, Wien
Dr. Elke Steven, Köln, Soziologin
Martin Singe, Bonn, Theologe
Martin Huhn, Mannheim, Industriepfarrer i.R.
Jürgen Lodemann, Freiburg, Schriftsteller
Dr. Torsten Bewernitz, Mannheim, Politologe
Mario Damolin, Heidelberg, Journalist
Dr. Nadja Rakowitz, Maintal, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Ralf Kliche, Maintal, Lehrer
Peter Kühn, Flemlingen , Schulleiter a.D.

und 74 weitere Unterzeichner/innen

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