Der Freitag 13.10.2011 – Ausgeliefert ins vierte Leben

Ausgeliefert ins vierte Leben
Andreas Förster

Sonja Suder und ­Christian Gauger tauchten vor 33 Jahren in Frankreich ­unter. Nun sollen sie wegen angeblicher Beteiligung an Anschlägen der „Revolutionären Zellen“ vor Gericht
In der kleinen Pariser Vorortstraße wartet ein Auto auf sie. Als Sonja Suder und Christian Gauger am 14. September ihre winzige Zweizimmer-Wohnung in St. Denis zum Einkaufen verlassen, sind sie plötzlich umringt von Zivilbeamten. Höflich werden sie gebeten, einzusteigen. Es geht jetzt nach Hause, sagt einer. Nach Deutschland.
Zu Hause, in Frankfurt am Main, sitzt das Paar seitdem im Gefängnis. Die 78-jährige Sonja Suder und ihr Lebensgefährte, der 70 Jahre alte Christian Gauger. Vor 33 Jahren hatten sie sich nach Frankreich abgesetzt, waren untergetaucht, nun ist ihre Flucht vor der deutschen Justiz zu Ende. In Frankfurt soll ihnen bald der Prozess gemacht werden.
Den beiden deutschen Rentnern wird vorgeworfen, als Angehörige der linksradikalen „Revolutionären Zellen“ (RZ) vor fast 35 Jahren an drei Brandanschlägen beteiligt gewesen zu sein, die damals lediglich Sachschäden verursacht hatten. Suder soll zudem logistische Hilfe beim Überfall auf die OPEC-Minister in Wien im Jahr 1975 geleistet haben. Die Vorwürfe stützen sich auf zwei Zeugenaussagen, die jedoch juristisch umstritten sind. Ein Zeuge hat zudem seine vor mehr als 30 Jahren gemachte Aussage widerrufen. Dennoch wird es wohl zum Prozess kommen, die Staatsanwaltschaft hält an ihrer Anklage fest.
Die Wohnung in St. Denis wird vorerst leer bleiben. „Kein Problem, wenn es dann so weit ist und sie uns holen kommen“, hatte Sonja Suder noch im Sommer gesagt. „Wir haben hier viele gute Freunde, die sich um unser Zuhause kümmern werden.“
Das Gespräch damals fand in ihrer kleinen Wohnung statt, die im Obergeschoss eines kleinen Hauses in einer stillen Wohnsiedlung unweit der Pariser Universität liegt. Auf dem Tisch lagen alte Bilder, Fahndungsfotos von 1978. Eines zeigt eine junge Frau. Ihre Haare sind kurz geschnitten, die Kamera hat einen braven, fast scheuen Blick eingefangen. Auf dem anderen Foto erkennt man einen jungen Mann mit Vollbart und langem Haar, das auf die Schultern fällt. Man musste genau hinsehen, um die Ähnlichkeit mit den beiden Alten in dieser Wohnung zu erkennen. Sonja Suder ist heute eine kleine Frau, resolut, mit wachen Augen im faltigen Gesicht, die langen, dunklen Haare zu einem Zopf geflochten. Und Christian Gauger ist ein noch immer großgewachsener Mann, der etwas gebeugt geht und sein licht gewordenes graues Haar im Nacken zusammengebunden hat.
„1978 sind wir an meinem Geburtstag, dem 29. August, aus Frankfurt abgehauen“, erzählte Gauger im Sommer. Am Vortag hatten sie sich morgens auf den Weg zum Flohmarkt gemacht, wo sie einen Stand hatten. Ein Wagen fiel ihnen auf, der sie von ihrem Haus im Stadtteil Sachsenhausen zum Markt verfolgte. „Wer Samstag früh um sechs Uhr durch die Stadt fährt, am Markt aber im Auto sitzen bleibt, ist kein Händler“, sagte Gauger. „Da wussten wir, die sind hinter uns her.“
Sonja Suder stand damals kurz vor ihrem Medizin-Abschluss, Gauger hatte Psychologie studiert und war als Sozialarbeiter tätig. In Frankfurt am Main waren beide „in der Szene aktiv“, wie Suder sagte, sie gingen auf Demos, diskutierten mit Hausbesetzern und Studenten, kannten die „Putztruppe“ von Joschka Fischer, die sich mit Polizisten prügelte. Gauger arbeitete zudem bei der „Roten Hilfe“ mit, einer vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppe, die inhaftierte Linke unterstützte.
Zu einer angeblichen RZ-Zugehörigkeit wollten Suder und Gauger jedoch nichts sagen. Festgenommen wurden die beiden in jener Zeit in Frankfurt nie, nicht einmal erkennungsdienstlich behandelt. „Aber Fotos hatten sie natürlich von uns“, sagte Suder. „Wir gehörten für die zu den Extremisten. Und das konnte schon ausreichen, um dich einzusperren.“
Nach ihrer Flucht nach Frankreich mussten die beiden ihr neues Leben organisieren. Geld verdienten sie sich auf Flohmärkten. „Wenn du deinen Stand immer ordentlich aufgebaut und die Waren gut präsentiert hast, hat dich niemand behelligt“, sagte Suder. Dennoch beherrschte in den ersten Jahren die Angst vor Entdeckung ihr Leben. „Wir fürchteten immer, dass man uns findet“, sagte sie. „Wenn Deutsche in der Nähe waren, redeten wir französisch weiter. Mit unseren Namen sprachen wir uns überhaupt nicht an, nicht mal in der Wohnung.“ Es sei eine einsame Zeit gewesen. Gekannt hätten sie anfangs niemanden in Frankreich, und mit den Freunden daheim wagten sie nicht, Kontakt aufzunehmen. „Wir waren auf uns selbst zurückgeworfen“, sagte Gauger. Etwas leichter wurde ihr Leben erst, als sie nach ein paar Jahren gefälschte Schweizer Pässe bekamen. Freunde hätten sie besorgt. „Jetzt konnten wir ganz offen deutsch reden und anderen unsere Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählen, die wir ganz einfach nur in die Schweiz verlegen mussten“, sagte er. Von Demonstrationen hielten sie sich aber weiter fern. „Da konnte man höchstens mal am Rand stehen und zuschauen.“
Mit ihren Flohmarktgeschäften verdienten sie ganz gut. Sie mieteten sich eine Wohnung bei Lille, lebten sparsam, legten Geld zurück, das sie zu Hause versteckten, denn ein Konto hatten sie aus Sicherheitsgründen nicht. 2000 aber schien die Flucht zu Ende zu sein. In Paris wurden die beiden aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen. Sie saßen drei Monate in Untersuchungshaft, dann kamen sie frei. Die Richter erklärten, die Taten seien nach französischem Recht verjährt.
„Wir fühlten uns wie befreit“, erzählte Gauger. Sie lebten nun ganz offiziell unter richtigem Namen in Frankreich und nahmen auch wieder Kontakt zu den alten Bekannten in Frankfurt auf. „Plötzlich fiel alle Angst von uns ab, wir konnten jetzt mit unseren französischen Freunden über unsere Vergangenheit reden, wir bekamen Besuch aus Deutschland, das waren Leute, die wir über 20 Jahre nicht gesehen hatten“, sagte Sonja Suder. „Da erst haben wir gespürt, wie sehr uns die Situation vorher belastet hatte und welchen Verlust wir erlitten haben dadurch, dass wir alle Brücken nach Deutschland abbrechen mussten.“
Sie schlossen eine Krankenversicherung ab, beantragten bei deutschen Behörden ihre Renten und bekamen schließlich auch die 80.000 Mark Erspartes zurück, die man ihnen bei der Festnahme in Paris abgenommen hatte. „Es war, als hätte unser Leben wieder neu begonnen, zum dritten Mal“, sagte Sonja Suder. Dass sie Frankreich nicht verlassen konnten, um keine neuerliche Festnahme wegen des weiter geltenden deutschen Haftbefehls zu riskieren, störte sie nicht. „Nach Deutschland zog uns nichts zurück“, sagte Gauger.
Im Sommer 2007 wurden die beiden wieder festgenommen. Ein französischer Richter eröffnete ihnen, dass Deutschland nun einen europäischen Haftbefehl beantragt habe, der nach EU-Recht eine bedingungslose Auslieferung von Staatsbürgern an ihr Heimatland vorsehe. Sie kamen zwar vorerst wieder auf freien Fuß, fochten durch alle Instanzen den neuen Haftbefehl an. Doch ohne Erfolg: Am 14. September 2011 wurden Sonja Suder und Christian Gauger nach Deutschland ausgeliefert.
Hier warten sie nun auf ihren Prozess. Eine 78-jährige Frau und ein 70-jähriger kranker Mann, der nach einem Herzstillstand vor 13 Jahren unter Gedächtnislücken leidet. Eine sichere Erinnerung hat er nicht mehr an die Zeit, um die es im Prozess gehen wird. Doch die deutsche Justiz bleibt hart. Eine Haftbeschwerde wurde in der vergangenen Woche abgelehnt. Es bestehe weiter Fluchtgefahr, meinte der Richter.

Hintergrund
Revolutionäre Zellen und Rote Zora
Die Revolutionären Zellen, ein Netzwerk aus autonomen Kleingruppen, entstanden im Zuge der Radikalisierung eines Teils der 68er-Bewegung. Die RZ und die Frauen der „Roten Zora“ versuchten, militante Aktionen aus der Anonymität heraus mit einem sonst legalen Leben zu verbinden. 1973 verübten die RZ, die diesen Namen erst ab 1976 trugen, erstmals Anschläge: gegen Tochter­gesellschaften der Firma ITT.
Bis 1995 rechneten die Behörden knapp 300 Aktionen den RZ zu, diese selbst bekannten sich zu über 18o. Zumeist richteten sich die Anschläge gegen Objekte mit Symbolcharakter – wie etwa beim 1991 gescheiterten Attentat auf die Berliner Siegessäule. Zwar lehnten die RZ gezielte Tötungen ab, berüchtigt waren aber ihre „Knieschuss-Attentate“ wie etwa auf den Chef der Berliner Ausländerbehörde.
Innerhalb der RZ kristallisierten sich eine sozialrevolutionäre und eine anti­imperialistische Strömung heraus. Während die eine um Anschlussfähigkeit etwa in Anti-AKW- und bei antirassistischen Gruppen bemüht war, suchte die andere die Kooperation mit Gruppen aus dem Ausland. 1976 waren neben Palästinensern auch RZ-Mitglieder an der Entführung einer Air-France-Maschine aus Tel Aviv beteiligt. Im ugandischen Entebbe wurden jüdische Passagiere „selektiert“, alle anderen dagegen freigelassen. Israelische Sicherheitskräfte beendeten schließlich die Aktion, die auch in der radikalen Linken auf heftige Ablehnung stieß.
In den neunziger Jahren wurde im RZ-Spektrum teils sehr selbstkritisch über solche Aktionen und den Sinn einer militanten Strategie debattiert.

http://www.freitag.de/politik/1141-ausgeliefert-ins-vierte-leben

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