Berliner Zeitung 05.06.2010: Im Versteck

Im Versteck

Andreas Förster

Vor 32 Jahren tauchten Sonja Suder und Christian Gauger in Frankreich unter. Heute sind die mutmaßlichen Terroristen Rentner und sollen nach Deutschland ausgeliefert werden. Die Geschichte einer Flucht

Sonja Suder hält ein Foto in der Hand. Es ist ein altes Foto, und es zeigt eine junge Frau. Ihre Haare sind kurz geschnitten, die Kamera hat einen braven, fast scheuen Blick eingefangen. Ein anderes Foto zeigt einen Mann mit Vollbart und langem Haar, das auf die Schultern fällt. Die Aufnahmen sind von 1978, sie zeigen Sonja Suder und ihren Freund Christian Gauger. Es sind Fahndungsfoto der Polizei, mit der sie zwei mutmaßliche Terroristen suchte.

„Die alten Bilder“, sagt Sonja Suder, „eigentlich möchte ich die gar nicht mehr sehen.“ Und Christian Gauger, der in der winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung im Pariser Vorort St. Denis neben ihr sitzt, sagt: „Demnächst wird es vielleicht neue von uns geben. In Handschellen, wie es sich für Terroristen wie uns gehört.“ Es soll sarkastisch klingen, aber es klingt nur schwach.

Sonja Suder und Christian Gauger droht in den nächsten Wochen die Auslieferung nach Deutschland. In Frankfurt am Main soll ihnen der Prozess gemacht werden. Sie sollen Mitte der Siebzigerjahre an drei Brandanschlägen der linksextremen Revolutionären Zellen beteiligt gewesen sein.

Die Wohnung liegt im Obergeschoss eines kleinen Hauses in einer stillen Wohnsiedlung in der Nähe der Universität. Eine schmale, steile Stiege führt hinauf zur Eingangstür, an der kein Namensschild steht. Seit neun Jahren wohnen die beiden hier. Es ist nicht die beste Gegend, St. Denis gilt als Problembezirk, eine Gegend, die am Rande der Stadt und der Gesellschaft liegt. Viele Ausländer leben in den Hochhaussiedlungen ringsum, Arbeitslose, Arme. Es gibt Jugendbanden, vor ein paar Wochen schlugen Mädchen hier eine Busfahrerin zusammen. Aber auch Exilanten zieht es her, Anarchisten aus Italien, Spanien, Südamerika, die hier Schutz gefunden haben vor den Behörden ihrer Länder.

Sonja Suder ist 77 Jahre alt, eine kleine Frau, resolut, mit wachen Augen im faltigen Gesicht. Die dunklen Haare sind lang, sie trägt sie zu einem Zopf geflochten. Christian Gauger ist 68, ein großgewachsener Mann, auch er hat seine licht gewordenen grauen Haare im Nacken zusammengebunden. Sie wollen sich nicht fotografieren lassen, das haben sie zur Bedingung für das Treffen gemacht, so, wie sie auch nichts zu den Anklagevorwürfen sagen wollen und über die Freunde, die ihnen in all den Jahren geholfen haben.

Sonja Suder redet viel, lacht gern, man spürt, das ist eine, die sich nicht unterkriegen lassen will vom Leben und seinen Widrigkeiten. Gauger redet selten, und wenn, dann spricht er langsam, als suche er erst nach den Worten. So ruhig und gemessen bewegt er sich auch, wenn er durch die Wohnung geht. Als traue er seinem Körper nicht.

„An meinem Geburtstag sind wir aus Frankfurt abgehauen“, erzählt Christian Gauger, das war am 29. August 1978. Am Vortag hatten sie sich wie jedes Wochenende am Morgen auf den Weg zum Flohmarkt gemacht, wo sie einen Stand hatten. Ein Wagen fiel ihnen auf, der sie von ihrem Haus im Stadtteil Sachsenhaus bis zum Markt verfolgte. „Wer Samstagfrüh um sechs Uhr durch die Stadt fährt, am Markt aber im Auto sitzen bleibt, ist kein Händler“, sagt Gauger. „Da wussten wir, die sind hinter uns her.“

Es war 1978, die bleierne Zeit in der Bundesrepublik. Der Terror der RAF hatte seinen Höhepunkt erreicht. Der Staat schlug zurück. Auf den Autobahnen gab es Verkehrskontrollen, ganze Straßenzüge wurden abgeriegelt, überall hingen Fahndungsplakate, jeden Tag gab es Wohnungsdurchsuchungen.

Sonja Suder stand damals kurz vor ihrem Medizin-Abschluss, Gauger hatte Psychologie studiert und war als Sozialarbeiter tätig. In Frankfurt am Main waren beide „in der Szene aktiv“, wie Sonja Suder sagt, sie gingen auf Demonstrationen, diskutierten mit Hausbesetzern und Studenten, kannten die „Putztruppe“, zu der Joschka Fischer gehörte und die sich bei Demos mit Polizisten prügelte. Gauger arbeitete zudem bei der „Roten Hilfe“ mit, einer vom Verfassungsschutz beobachteten, konspirativ agierenden Gruppe. „Wir kümmerten uns um inhaftierte Genossen“, mehr will Gauger nicht sagen.

Festgenommen wurden die beiden nie, nicht einmal erkennungsdienstlich behandelt. „Aber Fotos hatten sie natürlich von uns“, sagt Sonja Suder. „Wir gehörten für die zu den Extremisten. Und das konnte schon ausreichen, um dich einzusperren.“

Das ist ihre Darstellung. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt hat eine andere. Sie ermittelte damals bereits gegen sie wegen der Beteiligung an Brandanschlägen der Revolutionären Zellen und hält bis heute an diesem Vorwurf fest.

Den ganzen Samstag in jenem August wurden Suder und Gauger überwacht. „Die Observierungsteams lösten sich ab“, erzählt Christian Gauger. „Auch am Abend, als wir in die Kneipe gingen, stand ein Wagen mit zwei Männern vor der Tür. Da war uns klar, wir mussten weg.“ Aus der Wohnung hatten sie Geld und Pässe mitgenommen, „und ein zweites Paar Unterhosen“, sagt Gauger. Mehr nicht. „Mit einer Tasche in die Kneipe, das wäre doch aufgefallen.“ Irgendwann fuhr das Auto mit den Aufpassern weg. „Jetzt hauen wir ab, haben wir da gesagt. Es war vielleicht die letzte Gelegenheit“, sagt Sonja Suder.

Aber warum haut man Hals über Kopf ab, wenn man sich nichts vorzuwerfen hat? Die beiden schweigen. Das ist die Abmachung.

„Terroristen flohen mit grüner Ente“, steht am nächsten Tag in der Zeitung. Die „grüne Ente“, das war ihr Citroen 2 CV. Mit ihm waren sie in der Nacht an die französische Grenze gefahren und hatten ihn dort abgestellt. Dann gingen sie zu Fuß weiter, nach Frankreich, in Sicherheit.

Erst viel später sollten Sonja Suder und Christian Gauger erfahren, was ihnen die Ermittler genau vorwarfen: Das erste Attentat war ein Sprengsatz, der am 22. August 1977 an einem Gebäude des Industrieunternehmens MAN in Nürnberg explodierte und ein Loch in die Außenwand des Gebäudes riss. Die Revolutionären Zellen rechtfertigten in einem Bekennerschreiben den Anschlag damit, dass MAN Verdichter für eine Urananreicherungsanlage in den Apartheid-Staat Südafrika liefere. Acht Tage später sollte eine Bombe bei der Firma Klein, Schanzlin & Becker in Frankenthal hochgehen, die Pumpen für Kernkraftwerke herstellte. Der Anschlag misslang, weil der Zünder nicht funktionierte. Am 18. Mai 1978 schließlich brach im Königssaal des Heidelberger Schlosses ein Feuer aus. Damit wollte die Gruppe gegen die Abrisspolitik der Stadt protestieren. Das wertvolle Parkett des Schlosssaals wurde beschädigt, die Reparatur kostete 80 000 Mark.

Verletzt wurde bei den Anschlägen niemand, bis Ende der Siebzigerjahre verfolgten die Revolutionären Zellen noch die Strategie, ausschließlich Anschläge mit Sachschäden zu verüben. Anders als die RAF wollten sie menschliche Opfer vermeiden. Später änderte sich das.

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft geht dennoch bis heute von menschengefährdenden Attentaten aus. Sie argumentiert, dass sich im Heidelberger Schloss in der Tatnacht ein Wachmann aufgehalten habe, wenn auch in einem anderen Gebäudeflügel. Der Umstand der Personengefährdung aber verdoppelt die für Brandstiftungen übliche Verjährungsfrist auf 20 Jahre. Da aus Sicht der Ankläger die Verjährung durch weitere Ermittlungen mehrfach unterbrochen worden sei, kann sich diese Frist weiter verlängern, auf maximal 40 Jahre. Damit wären Suder und Gauger erst ab 2018 nicht mehr zu belangen.

Die Staatsanwaltschaft führt die Aussagen ihres Kronzeugen Hermann Feiling ins Feld, eines Aktivisten der Revolutionären Zellen. Feiling war am 23. Juni 1978 schwer verletzt gefasst worden. Ein Sprengsatz, mit dem er ein Loch in die Mauer des argentinischen Konsulats bomben wollte, um gegen die Militärdiktatur in Buenos Aires zu protestieren, war zu früh explodiert. Noch auf der Intensivstation der Uniklinik in Heidelberg, wo Feiling beide Beine an den Oberschenkeln amputiert und die Augen entfernt werden mussten, wurde er von Staatsanwälten vernommen. Nach dem Krankenhausaufenthalt setzten die Ermittler ihre Vernehmungen in den Polizeikasernen Oldenburg und Münster fort, wo der Schwerstverletzte bis Ende Oktober 1978 in Isolationsverwahrung untergebracht war, wie es bei Terroristen damals praktiziert wurde. Lediglich seine Eltern und ein nicht von ihm ausgewählter Anwalt durften Feiling zeitweise besuchen. In seinen Aussagen machte Feiling umfangreiche Angaben über Mitglieder der Zellen, auch über Suder und Gauger. Dank seiner Aussagen sei es den Ermittlern gelungen, „in die Revolutionären Zellen einzudringen“, erklärte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann in einer Pressekonferenz Anfang Juli 1978.

Feiling hatte durch die Explosion auch leichte Hirnschäden erlitten und widerrief später seine Aussagen. Für die Verteidiger von Suder und Gauger wird das ein entscheidendes Argument sein, wenn es zum Prozess kommt. Durch seine Verletzungen sei seine Erinnerungs- und Einsichtsfähigkeit zudem stark eingeschränkt gewesen. Auch das mindere den Beweiswert seiner Aussagen.

Sie hätten in Frankreich von all dem überhaupt nichts mitbekommen, sagt Sonja Suder. „Wir mussten erstmal sehen, wie wir über die Runden kommen.“ Unterstützer hätte es keine gegeben. Ein bisschen erspartes Geld, das sie aus Frankfurt mitgenommen hatten, half ihnen in der ersten Zeit. „Damals war es noch recht einfach, eine Wohnung in Frankreich zu bekommen“, erzählt Gauger. „Wenn man sich mit Dr. Soundso vorstellte und die Miete im Voraus bezahlte, hat das bei einigen Vermietern so großen Eindruck gemacht, dass man gar keine Papiere vorzeigen musste.“ Auch wenn man auf der Straße kontrolliert wurde, sei es okay gewesen, wenn man sagte, man habe den Pass gerade nicht dabei und komme am nächsten Tag aufs Revier. Meist vergaßen die Beamten das sowieso. „Es ist außerdem ein großer Vorteil, in einer so rassistischen Gesellschaft wie der französischen zu leben“, sagt er. „Ob in der Metro, auf Straßen oder Märkten – überall werden Schwarze und Araber kontrolliert, als Weißer kommst du meist ungeschoren davon.“

Ihr Geld verdienten sie sich auf Flohmärkten, harmlose Sachen, keine Hehlerware. Das Geschäft lief nach einigen Anfangsschwierigkeiten gut. Jeden Tag waren sie unterwegs. „Wenn du deinen Stand immer ordentlich aufgebaut und die Waren gut präsentiert hast, hat dich niemand behelligt“, erzählt Sonja Suder. Ihre Kleidung hat sie sich damals auf den Märkten zusammengesucht. „Da wurde auch viel Diebesgut angeboten, und was abends nicht verkauft war, haben die Händler dagelassen, um sich nicht damit zu belasten. Da habe ich mich bedient, manche Sachen habe ich heute noch.“

Auch Christian Gauger hat seine Erinnerungsstücke von den Flohmärkten. Auf verstaubten Regalen in dem sechzehn Quadratmeter großen Wohnzimmer stehen Hunderte kleine Messerbänkchen. Gauger nimmt ein paar Bänkchen heraus und dreht sie in den Händen. Es sind Exemplare aus Porzellan und Metall, einige sind kunstvoll bemalt, andere einfach aus Holz geschnitzt. „Mein Sammlertick“, sagt Gauger. „Hübsch, nicht?“

„Wir hatten immer Angst, dass man uns findet“, erzählt Sonja Suder. „Wenn Deutsche in der Nähe waren, redeten wir schnell französisch weiter. Mit unseren Namen sprachen wir uns überhaupt nicht an, nicht mal in der Wohnung.“

Es sei eine einsame Zeit gewesen. Gekannt hätten sie anfangs niemanden in Frankreich, und mit den Freunden daheim wagten sie nicht, Kontakt aufzunehmen. „Wir waren auf uns selbst zurückgeworfen“, sagt Gauger. Nur manchmal ließ Sonja Suder ihrer Mutter in Deutschland Nachrichten und Grüße zukommen, die beiden hingen sehr aneinander. Als die Mutter starb, konnte die Tochter nicht zu ihrer Beerdigung fahren.

Etwas leichter wurde ihr Leben erst, als sie nach ein paar Jahren gefälschte Schweizer Pässe bekamen. Freunde hätten sie besorgt. „Jetzt waren wir Eva Straub und Jürgen Renner, wir konnten ganz offen deutsch reden und anderen unsere Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählen, die wir ganz einfach nur in die Schweiz verlegen mussten“, sagt Christian Gauger. Von politischen Demonstrationen hielten sie sich weiter fern. „Da konnte man höchstens mal am Rand stehen und zuschauen.“

So blieben die beiden also bei ihren Flohmarktgeschäften und verdienten ganz gut dabei. Sie mieteten sich eine Wohnung bei Lille, lebten sparsam, legten Geld zurück, das sie zu Hause versteckten, denn ein Konto hatten sie aus Sicherheitsgründen nicht.

1997 bekam Christian Gauger einen Herzinfarkt. „Ich sitze am Computer, er nebenan im Sessel“, erinnert sich Sonja Suder. „Plötzlich gibt er so ein komisches Geräusch von sich. Ich rüber, da ist er schon tot, kein Herzschlag mehr.“ An einer Arhytmie litt Gauger damals bereits, einer gefährlichen Herzstörung. Er nahm Medikamente, aber sie bekamen ihm nicht. Sonja Suder, die Medizin studiert hatte, holte ihn mit Herzdruckmassage zurück ins Leben.

Eine Krankenversicherung hatten sie nicht. „Wenn du untergetaucht bist, in der Illegalität lebst, dann willst du so wenig Spuren wie möglich hinterlassen“, sagt sie. Im Krankenhaus behandelten sie Gauger dennoch, auf Rechnung. Vier Tage lang lag er im Koma, dann wachte er auf. Die Ärzte sagten, ihr Mann habe sein Gedächtnis verloren, aber es könne wiederkehren. „Ich wusste, wie gefährlich das für uns war“, sagt Sonja Suder. „Jeden Tag war ich bei ihm im Krankenhaus. Und immer, wenn die Schwester draußen war, habe ich ihm ins Ohr geflüstert: Du heißt Jürgen Renner. Du heißt Jürgen Renner. Das war wie Gehirnwäsche.“

Eines Tages ist es dann doch passiert. Das Krankenhaus rief an, ihr Mann habe einen anderen Namen aufgeschrieben als den, unter dem er eingeliefert wurde. „Ich raste hin und erzählte den Ärzten von einem Onkel Christian Gauger, bei dem er aufgewachsen ist als Kind. Sie haben mir geglaubt, das war unser Glück.“

Inzwischen kann sich Christian Gauger an vieles aus seinem Leben wieder erinnern, oder er glaubt es zumindest. „Wir haben daran gearbeitet“, sagt Sonja Suder. Sie habe ihm aus ihrem gemeinsamen Leben erzählt, Situationen geschildert. „Es ging darum, Türen zu öffnen. Erinnern musste er sich selbst. Nach gut einem Jahr war einiges wieder da.“

Die Behandlungskosten nach Gaugers Herzstillstand konnten sie mit dem gesparten Geld begleichen, es blieb sogar noch etwas übrig. Später sei noch eine Erbschaft hinzugekommen, Gaugers Schwester hätte ihnen das Geld nach Frankreich gebracht. Als Suder und Gauger Mitte Januar 2000 festgenommen wurden, hatten sie 250 000 Francs in bar bei sich, umgerechnet rund 80 000 Mark.

Es war ein Sonntagvormittag, als eine Anti-Terror-Einheit der Pariser Polizeipräfektur die beiden Deutschen in der Rue Phillippe Auguste im 11. Arrondissement stellte. „Wir kamen aus einem Hotel, als wir plötzlich umringt wurden“, erinnert sich Sonja Suder. „Hände hoch, Gesicht zur Wand, schrien sie. Das ging alles sehr schnell.“ Sie wurden getrennt abtransportiert, er in ein Pariser Gefängnis, sie in eine Frauenhaftanstalt vor der Stadt. Es war ihre erste Trennung nach 22 Jahren. Nur einmal, bei der Anhörung vor dem Richter, sahen sie sich kurz.

Nach der Festnahme erfuhr Sonja Suder, dass ihr neben den drei Anschlägen von 1977 und 1978 noch eine weitere Tat vorgeworfen wird: Sie soll auch am Überfall auf die Opec-Tagung 1975 in Wien beteiligt gewesen sein. Am 21. Dezember hatte ein Kommando des venezolanischen Terroristen Ramirez Sanchez, genannt „Carlos“, die Ministerkonferenz überfallen und dabei drei Menschen getötet.

Suders Mitwirkung hatte 1998 Hans-Joachim Klein behauptet, der ebenfalls aus der Frankfurter Szene stammt und den Gauger und Suder von dorther kennen. Klein wurde bei der Aktion in Wien durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Er tauchte in Südfrankreich unter, wo er 1998 von Zielfahndern verhaftet wurde. Bei seinen Vernehmungen behauptete er, Sonja Suder könnte als Logistikerin an der Vorbereitung des Opec-Überfalls beteiligt gewesen sein. Im Prozess gegen Klein hatte das Frankfurter Landgericht 1998 festgestellt, dass seine Aussagen zu Suder unglaubwürdig seien. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main wirft ihr dennoch dreifachen Mord, Mordversuch und Geiselnahme vor.

Nach ihrer Festnahme in Frankreich saßen sie drei Monate in Untersuchungshaft, dann kamen sie frei. Das französische Gericht sah keinen Anlass, die beiden an Deutschland auszuliefern. Die Richter erklärten, die Taten seien nach französischem Recht verjährt.

„Wir fühlten uns wie befreit“, erzählt Christian Gauger. Sie konnten nun ganz offiziell, unter richtigem Namen, in Frankreich leben und auch wieder Kontakt zu den alten Bekannten in Frankfurt aufnehmen. „Plötzlich konnten wir mit unseren französischen Freunden über unsere Vergangenheit reden, wir bekamen Besuch aus Deutschland, das waren Leute, die wir über 20 Jahre nicht gesehen hatten“, sagt Sonja. „Da haben wir gespürt, wie sehr uns die Situation vorher belastete und welchen Verlust wir erlitten haben dadurch, dass wir alle Brücken nach Deutschland abbrechen mussten.“

Sie schlossen eine Krankenversicherung ab, beantragten bei deutschen Behörden ihre Renten und bekamen schließlich auch die 80 000 Mark zurück, die man ihnen bei der Festnahme in Paris abgenommen hatte. „Es war, als hätte unser Leben wieder neu begonnen, zum dritten Mal“, sagt Sonja Suder. Dass sie Frankreich nicht verlassen konnten, um keine neuerliche Festnahme zu riskieren, störte sie nicht. „Nach Deutschland zog es uns nicht zurück“, sagt Christian Gauger.

Zu ihrem dritten Leben gehört die Wohnung in St. Denis. Es ist ein kleines Heim mit Möbeln vom Flohmarkt. In einem Holzregal stehen Bücher in deutscher Sprache, Naomi Kleins Kapitalismuskritik „Die Schock-Strategie“ etwa, oder „Revolution“ von Hari Kunzru, in dem es um einen englischen Ex-Terroristen geht, der von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Medizinische Fachbücher wechseln sich ab mit Krimis von Håkan Nesser und Henning Mankell. Dazwischen liegen deutsche Spiele, „Malefiz“ und „Carcassonne“. Ein zweites Zimmer gibt es noch, etwa drei mal vier Meter groß, ein selbstgezimmertes Bett steht darin, eine kleine Musikanlage und ein Tisch mit zwei Computern.

Auf so engem Raum muss man Nähe ertragen können. „Das war schon ein Glück mit uns beiden“, sagt Sonja Suder nur.

Sie steht auf und holt aus dem Nachbarzimmer ein kleines Buch. Es ist ein medizinisches Lexikon über Pflanzen und ihre Heilwirkung. Sie hat es selbst geschrieben. Alternative Medizin habe sie schon immer fasziniert, sagt Sonja Suder. Das Buchmanuskript hatte ein Freundin mit nach Deutschland genommen und im Eigenverlag herausgegeben. „Verdient habe ich nichts daran, aber es ist schön, wenn man so was geschafft hat.“

Noch einmal bricht die Vergangenheit in ihr Leben ein. An einem Sommertag 2007 werden Suder und Gauger vor einer Apotheke in ihrem Viertel in St. Denis von fünf Uniformierten umringt. „Wir durften noch das Medikament für Christian holen, dann wurden wir abtransportiert“, erzählt Sonja Suder. Der französische Richter eröffnet ihnen, dass Deutschland einen europäischen Haftbefehl beantragt habe, der nach EU-Recht eine bedingungslose Auslieferung von Staatsbürgern an ihr Heimatland vorsehe. Deshalb müsse nun neuerlich über ihre Auslieferung entschieden werden.

Wieder kommen sie in Haft, Gauger zwei, Suder vier Wochen lang. Nach ihrer Freilassung gründen Freunde in St. Denis ein Solidaritätskomitee, das Flugblätter verteilt und in Paris demonstriert. Es nützt nichts, im Sommer 2009 bestätigt das Pariser Appellationsgericht in letzter Instanz die Auslieferung. Im Juli unterschreibt Premier Francois Fillon einen entsprechenden Beschluss.

Das Papier liegt noch beim Conseil d’Etat, dem unabhängigen Staatsrat, der Einsprüche gegen Regierungsentscheidungen prüft. Nur dieser Rat kann die Auslieferung noch verhindern. Es ist für Suder und Gauger die letzte Chance, doch noch in St. Denis bleiben zu können. „Daheim“, wie Sonja Suder sagt. Aber die Chance ist nicht groß. Schon in den nächsten Wochen dürften die beiden nach Deutschland ausgeliefert werden. Nach 32 Jahren.

Und dann? Sonja Suder zuckt mit den Achseln. Vielleicht kommen sie in Deutschland in Untersuchungshaft, schließlich sind sie schon einmal getürmt, damals, aus Frankfurt am Main. Ganz sicher wird es einen Prozess geben. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt hat auf Anfrage erklärt, es gebe keinen Anlass, das Verfahren einzustellen.

Vermutlich werden sie noch in diesem Jahr vor Gericht stehen. Eine 77-jährige Frau und ein 68-jähriger, schwer kranker Mann, der sein Gedächtnis verloren und keine sichere Erinnerung mehr hat an eine Zeit, um die es in dem Prozess gehen wird. Fragwürdige Zeugen wie Hans-Joachim Klein werden auftreten, deren Aussagen kaum von Wert sein dürften vor Gericht.

Christian Gauger steht vom Tisch auf, er räumt die leeren Teetassen ab und den Teller mit den Keksen, die er während des Gesprächs ständig geknabbert hat. Sonja Suder fegt mit der Hand vorsichtig die Krümel auf der Tischdecke zusammen. „Sollen sie doch ihren Prozess haben. Dann ist es endlich vorbei“, sagt sie müde. Nach mehr als dreißig Jahren im Versteck, ist die Kraft aufgebraucht.

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Auf verstaubten Regalen in der Wohnung stehen hunderte kleine Messerbänkchen, Exemplare aus Porzellan und Metall. Einige sind kunstvoll bemalt, andere einfach aus Holz geschnitzt. „Mein Sammlertick“, sagt Gauger. „Hübsch, nicht?“

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